Familie ist nicht nur die kleinste soziale Einheit, Familie ist auch ein Geschäftsmodell. Bereits in der Antike, zur Zeit des Römischen Reiches sicherte die Gründung einer Familie bestehende Machtverhältnisse und garantierte, dass der eigene Besitz innerhalb eines Genpools verblieb. Schon damals entwickelten sich Familiendynastien, deren Herrschaftssysteme zum Teil über Generationen fortgesetzt wurden. Kinder waren demnach eine lohnenswerte Investition. Aber wie steht es um das Lohnenswerte heute?
Dem Begriff Familie geht eine lange geschichtliche Entwicklung voraus. Früher beschrieb der Begriff familia u.a. ein Herrschaftssystem bestehend aus einem Herrscher und seinen Untertanen. Eine biologische Verwandtschaft war folglich keine Bedingung. Es ging eher um die Beschreibung eines Machtgefüges, welches sich durch das frühere Bild von Familie manifestierte. Auch heute sind solche Machtgefüge nach wie vor existent, obwohl sie sich über die Jahrhunderte auch der Zeit anpassten. Als Beispiel sind hier die verschiedenen Königsfamilien zu nennen. Aber auch Großfamilien, deren Unternehmen weitestgehend im Familienbesitz verblieben können hier genannt werden. Henkel, Siemens, Miele, Otto, Brenninkmeijer (C&A) oder Porsche, sie alle zählen zu den sogenannten Unternehmerfamilien, deren Geschäft stets den Nachkommen vermacht wurde. Dem Familienbegriff kommt hier ein materieller Wert zu.
Das Kinder bzw. Familie aber nicht nur eine materielle, sondern auch eine emotionale Investition sind, zeigt eine aktuelle Statistik von Statista. Sie verdeutlicht, dass Familien einen hohen Stellenwert im Wertebewusstsein der Menschen besitzen und neben engen Beziehungen einen wichtigen Aspekt im Leben eines Menschen einnehmen.
Unabhängig von geschäftlichen oder emotionalen Interessen stellt sich nun die Frage, warum Menschen sich heute für eine Familiengründung entscheiden und wie sich der Begriff Familie definieren lässt.
Prof. Dr. Oliver Arránz Becker (46) ist Professor für Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsgebiete umfassen Quantitative Methoden, Familienforschung und demographische Prozesse sowie Gesundheitsforschung. Seine Promotion beschäftigte sich mit der Frage “Was hält Partnerschaften zusammen?”, die der Soziologe anhand psychologischer und soziologischer Erklärungsansätze untersuchte. In seinem neuesten Aufsatz zeigt Arránz Becker auf, wie rationales Verhalten und die Entscheidung zur Familiengründung zusammenhängen und welche Werte dabei eine Rolle spielen.
Nabelschau wollte von Oliver Arránz Becker genauer wissen, warum sich Menschen für eine Familiengründung und somit für das Kinderkriegen entscheiden, und ob der gesellschaftliche Druck diese Entscheidung möglicherweise mitbestimmt.
Nabelschau: Inwieweit erzwingen gesellschaftliche Werte und Normen eine (potenzielle) Familiengründung?
Oliver Arránz Becker: Ich weiß gar nicht, ob “Erzwingen” hier das richtige Wort ist. Bis vor Kurzem waren die Familiengründung und das Kinderkriegen noch der absolute Regelfall, mit nur wenigen Ausnahmen. Insofern würde ich die Frage sogar andersherum stellen und fragen, was dazu führt, dass einige Menschen keine Kinder bekommen. Dabei handelt es sich nämlich um einen historischen Ausnahmefall.
Bis in die 60er-Jahre gehörten Kinder in vielen Ländern zur Normalbiografie dazu. Dass sich das nach dieser Zeit änderte, lag zum einen an der Einstellungsänderung, und zum anderen am technologischen Fortschritt, beispielsweise durch das Aufkommen der Pille. Die Pille bot Paaren erstmals in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit Sexualität von Reproduktion zu trennen. Dies führte dazu, dass die Leute plötzlich die Wahl hatten, sich für oder gegen ein eigenes Kind zu entscheiden.
Zu dieser Entscheidungsfreiheit kamen strukturelle Veränderungen des Bildungssystems hinzu. Seit den 60er-Jahren existiert die sogenannte Bildungsexpansion, das heißt, die höhere Bildung, die früher lediglich einer kleinen Elite vorbehalten war, erreichte eine starke Ausweitung. Mittlerweile ist Bildung für die breite Masse zugänglich geworden, wovon insbesondere Frauen profitiert haben. Denn lange Zeit beschränkten sich ihre Aufgaben vorrangig auf das Kinderkriegen und die Familienarbeit. Mithilfe der Bildungsexpansion hat sich diese Vorstellung komplett gewandelt und somit auch die Werthaltung und die Möglichkeiten gegenüber Bildung.
Heutzutage ist eine gute Ausbildung einer der wichtigsten Werte in der Gesellschaft und mit der Bildung kommt natürlich auch der Wunsch, dass diese in berufliche Tätigkeit umgesetzt wird. Wozu soll ich mich bilden, wenn ich später lediglich der Familienarbeit nachgehen werde? Dahingehend haben sich die Werte sehr stark in Richtung der beruflichen Selbstentfaltung entwickelt. Hier liegt aber zugleich das Problem für viele Paare. Denn Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht so einfach. Wir können uns nicht für die Familie entscheiden und bei dem Beruf gar keine Abstriche machen. Insofern existiert nur ein begrenztes Zeitbudget, welches dazu führt, dass sich mehr Leute als früher gegen eigene Kinder entscheiden. Trotz allem bleibt es eine freie Entscheidung, weshalb hier nicht von einem “Erzwingen” gesprochen werden kann.
Nabelschau: “Vögeln für die Rente” – In welcher Hinsicht rechtfertigt der sogenannte Generationenvertrag die Familiengründung?
Oliver Arránz Becker: Das kommt natürlich darauf an, wie die Politik das Rentensystem organisiert. Der Generationenvertrag hat sicherlich noch einen starken Einfluss in Deutschland, was die Norm zur Geburt und Familiengründung angeht. So wie das Rentensystem bislang organisiert ist, hätten wir durchaus ein gesellschaftliches Problem, wenn die Leute noch weniger Kinder bekommen. Bereits jetzt müssen wir uns, aufgrund der geringen Fertilität, die wir beobachten, fragen, wie wir das bestehende Rentensystem in den nächsten Jahrzehnten aufrechterhalten können. Insofern ist es von politischer Seite aus sehr erwünscht und wird als Notwendigkeit angesehen, dass die Leute weiterhin Kinder bekommen, auch wegen zunehmender Diskussionen über Altersarmut. Wobei Tendenzen zu beobachten sind, die sich stärker an einem kapitalgedeckten Rentensystem orientieren. Das bedeutet, dass die Leute zunehmend ermuntert werden, selbst stärker vorzusorgen und in die private Rentenversicherung einzuzahlen. Meiner Meinung nach ist diese Vorgehensweise auch konsequent, weil sie auf die rückläufige Geburtenentwicklung der letzten 50 Jahre reagiert.
Zudem verschieben sich die Geburten ins spätere Lebensalter. Heute haben wir ein durchschnittliches Erstgebäralter von Frauen um die 30 Jahre. Kinder werden demnach relativ spät geboren, was auch logisch ist, weil die Leute mehr Zeit im Bildungssystem verbringen und ihre Familiengründung aufschieben. Allerdings kann dieser Entschluss auch eine Falle sein, da die Fertilität der Frau mit Mitte 30 nachlässt. Für viele Paare ist es dann zu spät, was wiederum auch biografische Probleme erzeugt. Demnach ist es durchaus eine realistische Sorge, dass das aktuelle Rentensystem ohne einen gewissen Nachwuchs in der Gesellschaft vor große Probleme gestellt wird.
Nabelschau: Kosten-Nutzen-Kind. Ein Dreiergespann, welches jeden rational denkenden Menschen von der Familiengründung abhalten müsste, warum kriegen wir trotzdem Kinder?
Oliver Arránz Becker: Diese Frage stellt sich, sobald die betroffene Person vor der Wahl steht, warum sie überhaupt noch Kinder kriegen soll. Allerdings sind Kinder nicht nur eine Belastung. Natürlich bringen Kinder indirekte und direkte Kosten mit sich und manchmal sind sie vielleicht auch anstrengend, aber das ist nicht alles. Ein umfangreiches Forschungsprogramm hat einmal untersucht, was die Menschen an Kindern schätzen. Es zeigte sich, dass in traditionalen, agrarisch geprägten Gesellschaften der materielle Nutzen von Kindern sehr hoch bewertet wird. In bäuerlichen Familienbetrieben beispielsweise werden Kinder als kurzfristige Arbeitskräfte und langfristige Altersvorsorge angesehen, weil es in diesen Gesellschaften häufig kein ausgebildetes Rentensystem gibt. Aber mit dem Übergang in die industrielle Produktionsweise bzw. zur Dienstleistungsgesellschaft verändert sich natürlich das Verhältnis zu den eigenen Kindern. Materielle Werte treten hier zunehmend in den Hintergrund, weil der Staat ein Rentensystem zur Verfügung stellt. Somit überwiegen psychische Freuden und andere Dinge.
Nabelschau: Ist die Kosten-Nutzen-Rechnung bei einem zweiten Kind rationaler, weil mit dem ersten Kind die Verantwortung deutlich wird?
Oliver Arránz Becker: Es ist durchaus zu beobachten, dass sich die Motive für das erste und das zweite Kind deutlich unterscheiden. Das ist auch der Grund, warum in der Literatur beides getrennt voneinander analysiert wird. Aber ob die Entscheidung deswegen rationaler ist, würde ich so nicht sagen. In einem Projekt haben Kollegen, Kolleginnen und ich dazu geforscht. Die Ergebnisse haben einen zweistufigen Prozess gezeigt. Auf der ersten Stufe ist die Werthaltung der Leute entscheidend. So konnten wir beobachten, dass trotz Säkularisierung, Religion nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Familiengründung spielt. In Ostdeutschland vielleicht nicht ganz so augenscheinlich, da die Mehrzahl der Leute nicht konfessionell gebunden ist. Aber für die Menschen, die religiös sind oder eine Konfession haben, für die spielt die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht so eine starke Rolle. Auf der zweiten Stufe kommen die Kosten und Nutzen mehr zum Tragen, wenn die religiösen Erwartungen nicht oder geringfügig vorhanden sind.
Nabelschau: Sie haben zur Frage “Was hält Partnerschaften zusammen?” promoviert, wie sehr hält ein Kind denn Paare zusammen?
Oliver Arránz Becker: In der Literatur werden Kinder häufig als beziehungsspezifische Investition bezeichnet. Das klingt sehr materiell, ist aber gar nicht so gemeint. Es meint vielmehr, dass Paare sehr viel Zeit und sehr viel Emotion in das eigene Kind und in die Partnerschaft stecken. Eine Trennung würde erhebliche Nachteile bedeuten, wie zum Beispiel der schwierigere Kontakt zum Kind. Wenn dann eine potenzielle Trennung vom Partner oder der Partnerin im Raum steht, möchte man natürlich nicht, dass die ganze Anstrengung, die ganze Zeit, die ganzen Gefühle, die man „investiert“ hat verloren gehen. Das könnte erklären, warum Paare sich häufig dazu entscheiden, trotz unglücklicher Beziehung zusammen zu bleiben. Je mehr Zeit und Emotion in die Partnerschaft investiert wurde, und dazu gehören auch Kinder, desto schwieriger wird die Entscheidung und desto schmerzhafter wird die Trennung. Ein Kind kittet also durchaus zusammen.
Nabelschau: Die Zahl der Regenbogenfamilien in Deutschland wächst, inwiefern muss sich der Begriff der Familie künftig von dem Begriff der Blutsverwandtschaft lösen?
Oliver Arránz Becker: In der wissenschaftlichen Literatur wird der Begriff bereits losgelöst vom Begriff der Blutsverwandtschaft betrachtet. Möglicherweise spiegelt sich diese Realität noch nicht so sehr in den Medien wider, aber in der familien-soziologischen Literatur finden wir heute schon Definitionen von Familie, die viel weiter gefasst sind.
In den 50er- und 60er-Jahren wird Familie oft als Zusammenleben zwischen Eltern und ihren leiblichen Kindern definiert, was auf die tatsächlichen, damaligen Lebensverhältnisse zurückzuführen ist. Aktuelle Definitionen formulieren den Begriff sehr viel loser und gehen von einer Generationendifferenzierung aus. Das heißt, sie definieren Familie als einen Zusammenschluss von zwei Generationen, die zusammenleben oder auch nicht zusammenleben. Auch eine biologische Verwandtschaft ist keine Voraussetzung mehr für den aktuellen Familienbegriff. Insofern würde ich sagen, dass sich diese Realität bereits in der Wissenschaft etabliert hat.
Nabelschau: Mittlerweile gibt es Menschen, die sich aufgrund des Klimawandels, bewusst gegen den eigenen Kinderwunsch und damit gegen eine eigene Familie entscheiden, können wir hier eine Werteverschiebung voraussagen?
Oliver Arránz Becker: Ich denke eher, dass es eine wichtige Rolle spielt, dass man sich für oder gegen Kinder entscheiden kann. Früher hat man halt mit Kindern gerechnet und heute gibt es diese bewusste Entscheidung. Neben Kindern gibt es natürlich auch viele andere Dinge, die man machen kann und die manchmal nicht so gut mit Kindern zu vereinbaren sind. In einer Untersuchung zum Thema Freizeitaktivitäten haben ein Kollege und ich herausgefunden, dass Frauen mit einem vermehrten Interesse für außerhäusliche Freizeitaktivitäten weniger und später Kinder bekommen haben. Es gibt also konkurrierende Genüsse, die mit Kindern in eine Art Wettbewerb treten. Insofern führt der ökonomische Standard dazu, dass man finanzielle Ressourcen und Zeit für andere Dinge aufwendet.
Nabelschau: Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz Kinder sind für mich…
Oliver Arránz Becker: Kinder sind für mich Erneuerung, Innovation, Unbeschwertheit, Lebensfreude, aber auch Anstrengung.
Verwendete Quellen:
- Bundeszentrale für politische Bildung: Entwicklung der Familie
- Fuhs, Burkhard 2007. Zur Geschichte der Familie. In: Ecarius, Jutta (Hrsg.). Handbuch Familie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 17-35.
- IfD Allensbach 2019. Was halten Sie persönlich im Leben für besonders wichtig und erstrebenswert?. Statista. Statista GmbH. Stand: 19.04.2020. Link zur Statistik
- Statista: Alternativmodelle Familie
- Wirtschaftswoche: Die reichsten Unternehmerfamilien Deutschlands
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